LesBAR - Der Literaturblog

 

Lesung & Konzert: Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow am 16.04.2023 im Theaterhaus Stuttgart

Nur wer auftaucht, 
kann Luft holen

Am 16. April macht Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow auf seiner aktuellen Lesereise Station im Theaterhaus Stuttgart. Im Gepäck hat er sein im März erschienenes Buch »Ich tauche auf« und seine Akustikgitarre. Die Mischung aus Tagebucheinträgen, Gedichten und Songtexten werden mit Tocotronic-Songs aus 30 Jahren Bandgeschichte verwoben.

Das Buch ist Stimmungsbild eines Landes in pandemischen Zeiten.  Eine Odyssee des Alltäglichen zwischen Zweifeln, Ängsten, Hoffnung und Liebe - und der Entstehungsbericht des Tocotronic-Albums »Nie wieder Krieg«, das im Januar 2022 erschienen ist. Es liefert mit seinen Kurzeinträgen ästhetische Fiktionen, Träumereien und Illusionen eines Intellektuellen Künstlers mit einer großen Begeisterung für entlegene Nischen der Popkultur, Politik, Kunstgeschichte und vor allem für Literatur.

Im Buch erzählt Dirk von Lowtzow auf 220 Seiten vom Jahr der unfreiwilligen Ruhe, 2020/21, zwischen seinem 49. und 50. Geburtstag. Was zunächst als Tagebuch konzipiert gewesen sei, verwandele sich jedoch bald in eine Kartierung der Wünsche, Hoffnungen und Phantasmagorien in einer Welt, die auch die unsrige ist – und doch eine andere sei. Trost sucht er in Natur, Büchern, Kunst und Filmen, sie werden in der Zeit des unfreiwilligen Stillstands wichtiger denn je. 

Dirk von Lowtzow nimmt die Lesenden mit auf eine Reise in sein „unfreiwilliges Jahr der Ruhe“. Ängste, Hilflosigkeit und Rückenschmerzen begleiten und belasten ihn mindestens ebenso wie auch die Einsamkeit. Dem sensiblen Sänger fehlen Umarmungen und die Nähe zu seinen engen Freunden. Es geht um Dinge, die von Lowtzow verarbeiten muss, weil sie ihn Tag und Nacht nicht loslassen. Dabei schildert er alltägliche Kämpfe gegen seine inneren Dämonen und seine Flucht von Berlin nach Buckow, wo er über Wiesen streunt, dem Zufall folgt und am Ende Wahrhaftiges findet. Doch erst dort findet er wieder Inspiration, kann durchatmen. „Nur wer auftaucht, kann Luft holen“ lautet auch einer der Einträge. 

Herausgekommen ist mit »Ich tauche auf« ein intimes Werk über die Gedankenwelt des Tocotronic-Frontmanns, der bisher als sehr verschlossen galt und dessen Privatleben irgendwo im Ungefähren verlaufen ist.

»Ich tauche auf« ist allerdings auch der Titel einer Single vom Album »Nie wieder Krieg«, die Tocotronic gemeinsam mit Soap & Skin aufgenommen haben. 

Dirk von Lowtzows Debüt als Autor ist 2019 unter dem Titel »Aus dem Dachsbau« erschienen. Als Musiker war er in der jüngeren Vergangenheit neben seiner Hauptband unter anderem bei Charlotte Brandi als Gastsänger zu hören.  

Zur Tour hat Dirk von Lowtzow einen exklusiven Song, den der Künstler eigens zum Buch eingespielt hat: »Sehnsucht nach unten«

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Dirk von Lowtzow, geboren 1971 in Offenburg/Baden, gründete 1993 in Hamburg die Rockband Tocotronic gemeinsam mit Arne Zank und Jan Müller

Seit 1995 erschienen 13 Tocotronic-Alben, zuletzt 2022 das Album »Nie wieder Krieg«. Von 1999 bis 2014 zudem fünf Alben mit dem experimentellen Duo Phantom Ghost, gemeinsam mit Thies Mynther. 

Seit 1999 ist Dirk von Lowtzow auch als Kunstkritiker tätig. Zahlreiche Katalogbeiträge und Kritiken, vornehmlich in der Zeitschrift Texte zur Kunst. 2015 brachte er zusammen mit dem Dramatiker und Regisseur René Pollesch die Oper »Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte« an der Berliner Volksbühne heraus. 

Er komponiert Theater- und Filmmusiken, zuletzt für den international erfolgreichen Film »Styx« von Wolfgang Fischer und wirkt bei Hörspiel- und Hörbuchproduktionen mit (u.a. »Triptychon« von Christian Kracht)

Actionreicher Roadtrip

Ein federleicht erzählter, sympathischer und ungewöhnlicher Roadtrip, den meine Autorenkollegin Sara Sagenroth hier vorlegt. „Monsieur Lucile und die Suche nach dem Glück“ ist eine lebendige, actionreiche und unbeschwerte Reise einer chaotisch und bunt zusammengewürfelten Gruppe ausgemachter Pechvögel ins Paris zur Zeit der Weltausstellung 1889, nach Berlin im Sommer 1928. Sie besuchen das legendäre Moulin Rouge, sie inspirieren unbewusst den noch unbekannten Pablo Picasso, begegnen dem jungen Bertold Brecht und landen am Ende ihres humorvollen und abenteuerlichen Zeitreisetrips in Woodstock. Den immer passenden Soundtrack liefert die Autorin gleich mit, so dass im Kopf nicht nur die Bilder entstehen, sondern auch gleich mit Musik untermalt werden.


Schnell und gut zu lesende kurzweilige Unterhaltung, ohne belanglos zu sein. Langweilig wird es keine Sekunde und die Losertruppe zelebriert bei allen Problemen enorm viel Lese- und Lebensfreude. Passend um die Stimmung an trüben Tagen ordentlich aufzuhellen. Allein schon das liebevoll gestaltete und absolut passende Cover lädt zur Lektüre ein. 


Fazit: Kleines Buch und doch großes Kino. Es lohnt sich also auch die selbst gezogenen Genregrenzen zu verlassen.

Anleger 511: Ein ganz besonderes Literaturprojekt

DREI INEINANDER VERSPONNENE THRILLER BIETEN EIN SPANNENDES UND ABGEDREHTES VEXIERSPIEL

Am 31. Oktober erscheint der Thriller-Band Anleger 511. Darin enthalten sind insgesamt drei Kurzromane – darunter auch mein neuer Kurzthriller. Zusammen mit dem im Ruhrgebiet lebenden Jo Schuttwolf und dem Kurpfälzer Klaus Maria Dechant habe ich das Projekt ins Leben gerufen und gestemmt. Herausgekommen ist ein verschachtelter Krimi mit einer aberwitzigen Konstruktion. In dem nun vorliegenden Roman tauschen wir drei Autoren unsere Hauptfiguren und ihren jeweiligen Kosmos gegenseitig aus. 

 

So ermittelt die von Dechant ersonnene Kommissarin Michi Cordes unter der Feder von Schuttwolf diesmal nicht in der Kurpfalz, sondern findet sich im Verlauf der Handlung in einem Rosa Gummiboot in den Abwasserkanälen von New York wieder. Dagegen landet der sexsüchtige Werbetexter Andy aus Schuttwolfs Roman U-Turn in meinem Thriller in einer Traumwelt, in der David Lynch, Quentin Tarantino und Stephen King die Fäden zu ziehen scheinen. Und Emma Berg, eine der zentralen Figuren aus meinem letztem Polit-Thriller Das Brandt-Attentat von 2019? Sie wird von Dechant auf eine lebensgefährliche Recherche in die Schweiz geschickt. 

 

Doch damit nicht genug. Wir haben nicht einfach nur unsere Hauptdarsteller getauscht. Wir schicken sie durch unsere unterschiedlichen Gedankenwelten und tauchen auch selbst in unseren Geschichten auf. Die Handlungen überschneiden sich ebenso wie Vergangenheit und Gegenwart der unterschiedlichen Protagonisten aufeinander prallen. Das ist bizarr und abgedreht – und gleichzeitig enorm vergnüglich und vor allem unterhaltsam. Und es endet dort, wo alles begonnen hat: auf der Terrasse am Rhein, im Anleger 511.

 

Geboren wurde dieses Vexierspiel 2019 nämlich in Eltville, einem beschaulichen Städtchen am Rhein. Dort, im Süd-West-Zipfel des Taunus liegt das Gasthaus Anleger 511. Die Küche ist mehr als ordentlich, der Weinkeller gut bestückt und die Terrasse bietet einen famosen Ausblick auf den Rhein. Ein inspirierendes Ambiente also, in dem sich im Sommer vor drei Jahren wir drei frisch gebackene und stolze Romanautoren zu einem zwanglosen Austausch getroffen haben. Die Sonne brannte heiß, der Weißwein war angenehm kühl durch die Kehle geflossen. Undankbare, vielleicht war letztlich Bacchus nicht ganz unbeteiligt am Gedankenkonstrukt, die zur Idee, zum Projekt und nun zur Publikation geführt hat.

 

Alle drei waren wir damals beim selben Verlag unter Vertrag und hatten in etwa zur selben Zeit unsere ersten Romane veröffentlicht. Und wie das eben so ist, kommt man über Social Media in Kontakt, tauscht Erfahrungen aus und irgendwann haben wir gesagt, lass uns doch mal treffen. Und genau das haben wir getan. 

 

Anfangs plauderten wir über die Entstehung der Romane, Wohl und Leid mit den Verlagen und wie wir unsere Handlungen und die Hauptfiguren entworfen haben. Daraus entstand dann irgendwann die Idee für ein gemeinsames Projekt, irgendwie angelehnt an die Musik-Show Sing my Song. Zwar wussten wir schnell, wohin wir wollten, aber es hat dann noch einige Zeit gedauert, bis wir die Idee selbst fassen und konkretisieren konnten. Klar war nur, wir sollten alle Geschichten an einem Endpunkt zusammenführen, nämlich dem Titelgebenden Lokal Anleger 511 in Eltville.

 

Gemeinsam ein Buch schreiben, das war uns Dreien allerdings zu wenig. Also haben wir etwas gemacht, was vielleicht in dieser Form bislang einzigartig ist: Wir haben ihre Hauptfiguren aus dem letzten Buch getauscht und ein anderer Autor hat für diese Figur eine neue Geschichte geschrieben. Das war nicht einfach, denn die eigenen Figuren sind einem ja irgendwie auch ans Herz gewachsen. Zunächst haben wir die Steckbriefe, also die Zusammenfassung von Aussehen und wichtiger Charaktereigenschaften ausgetauscht. „Ich habe meine Emma Berg, eine junge Journalistin aus Stuttgart, eine attraktive, quirlige Person in die Hände von Klaus-Maria Dechant gelegt.

 

Es hat dann allerdings einige Zeit gedauert, bis wir in die Umsetzungsphase des Projektes starten konnten. Schließlich war jeder von uns zu der Zeit beruflich enorm eingespannt. Dann kam auch noch die Pandemie dazwischen. Doch wir sind drangeblieben und haben uns regelmäßig per Videokonferenz ausgetauscht und uns irgendwann eine Deadline gesetzt und einen Verlag ausgesucht. Anfang dieses Jahres war Abgabe der Geschichten, die jetzt am 31. Oktober bei EarlyBird Books unter dem Titel Anleger 511 erscheinen.

 

Die Umsetzung der Idee war eine spannende und ganz neue Erfahrung. Ich durfte mir eine Geschichte rund um einen sexsüchtigen Werbetexter ausdenken, der die Hauptfigur in U-Turn – Irgendwann kommt jeder an von Jo Schuttwolf war. Anfangs habe ich mich damit sehr schwergetan, da ich alles in eine klassische Krimihandlung gießen und gleichzeitig an das vorangegangene Buch anknüpfen wollte. Doch dieser Andy war auf einem Selbstfindungstrip in Spanien und bei einem Healing beim Sex in eine Felsspalte gestürzt. Es hat bestimmt ein halbes Dutzend Versionen gedauert, bis ich Zugang zum Protagonisten gefunden habe.

Herausgekommen ist unter dem Titel Endstation Eltville eine ziemlich schräge Geschichte, angesiedelt zwischen Krimi, Thriller, Fantasy und mit Horrorelementen. Alles geschieht irgendwo zwischen Traum und Realität und die Ränder sind dabei extrem unscharf, verwischen beides.

 

Besonders ist auch die Produktion des Hörbuchs. Der Verlag hat dafür eine Autorenlesung vorgeschlagen. Deshalb war ich zwei Tage im Studio und habe die Geschichte selbst eingesprochen. Das war ebenfalls eine spannende und für mich auch komplett neue Erfahrung. Mit dem Ergebnis bin ich halbwegs zufrieden, auch wenn ich da noch deutlich Luft nach oben sehe. Allerdings kann ich mir sehr gut vorstellen, weiter an Stimme und Aussprache zu arbeiten und weitere Hörbücher einzulesen. Das hat nämlich saumäßig Spaß gemacht.

 

Bestellung beim Verlag: www.early-bird-books.de

 

Anleger 511 erscheint am 31. Oktober als Taschenbuch, eBook und Hörbuch bei Early Bird Books.

 

Taschenbuch:

ISBN-13: ‎ 978 3-75466-594-7

268 Seiten, Preis: 12,99 €

 

E-Book für Kindle und Tolino etc. 6,49 €

 

Audio CD: Preis 14,95 €

 

Erscheinungsdatum 31.10.2022

Lieferbar ab: 31.10.2022

Über den Ursprung 
des Bösen

Allerbestes, spannendes und gut geschriebenes Lesevergnügen.

Es ist schon einige Jahre her, da hat ein junger Autor aus der Schweiz für mächtig Furore gesorgt und den Literaturzirkus aufgemischt. Und leider lag das Buch viel zu lange auf dem Bücherstapel. 

Gerade mal 28 Jahre hat Joel Dicker einen Bestseller veröffentlicht, der ein ganzes Panoptikum an Genres auffährt. Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ist in erster Linie ein fesselnder Krimi mit vielen überraschenden Wendungen. Und trotz der Länge von 700 Seiten bleibt die Logik nicht auf der Strecke. Am Ende löst der Autor die fein miteinander versponnenen Handlungsfäden alle auf. Das ist große Krimikunst, von der sich viele Autoren eine gehörige Scheibe abschneiden sollten. 

Um was geht es: Es ist der Aufmacher jeder Nachrichtensendung. Im Garten des hoch angesehenen Schriftstellers Harry Quebert wurde eine Leiche entdeckt. Und in einer Ledertasche direkt daneben: das Originalmanuskript des Romans, mit dem er berühmt wurde. Als sich herausstellt, dass es sich bei der Leiche um die sterblichen Überreste der vor 33 Jahren verschollenen Nola handelt und Quebert auch noch zugibt, ein Verhältnis mit ihr gehabt zu haben, ist der Skandal perfekt. Quebert wird verhaftet und des Mordes angeklagt. Der einzige, der noch zu ihm hält, ist sein ehemaliger Schüler und Freund Marcus Goldman, inzwischen selbst ein erfolgreicher Schriftsteller. Überzeugt von der Unschuld seines Mentors - und auf der Suche nach einer Inspiration für seinen nächsten Roman - fährt Goldman nach Aurora und beginnt auf eigene Faust im Fall Nola zu ermitteln ...

Die Glaubwürdigkeit einer Geschichte liegt immer darin, ob sie sich wirklich so zugetragen haben könnte. Und ja, sie könnte in diesem Fall. Das von Joel Dicker ausgebreitete Erzählpanorama auf unterschiedlichen Zeitebenen und verschiedenen Perspektiven entfaltet einen unglaublichen Sog. Und so wird aus dem Kleinstadtidyll schnell ein gewaltiger Schlund voller Abgründe, bekommt die elitäre Literaturszene ihr Fett weg und schlummert hinter jedem freundlichen Gesicht noch ein Mister Hyde. Es geht um dunkle Gheimnisse und menschliche Konflikte. Dazwischen ist eine zarte und emotionale Liebesgeschichte eines Professors für Literatur und einem jungen Mädchen, Nola, ebenso verwoben, wie die Coming-of-Age-Story eines neuen Sterns am Literaturhimmel. Es ist aber auch ein Blick auf das Amerika am Vorabend der Präsidentschaft Barack Obamas und Portrait der Ostküste der USA. Und nicht zuletzt ist es ein Buch über Bücher und Literatur. 

Und das gesamte Potpurri stattet der junge aus der Schweiz stammende Autor Jöel Dicker mit Netz und doppeltem Boden aus, sodass die Leser in wahren Strudel der Ereignisse, der Geschichten und Charaktere gerissen werden. Denn Dicker verfährt mit seiner Storyline wie mit russichen Matroschka-Puppen und enthüllt ständig neue Details, packt zahlreiche spannende Wendungen zwischen die Buchdeckel und streut dabei auch eine angenehme Brise Humor ein, wodurch die Lektüre dem Häuten einer Zwiebel gleichkommt, aber immer Freude macht – auch wenn einem die Tragik der Ereignisse manchmal fast die Tränen in die Augen treibt.

Klare Leseempfehlung für alle, die komplexe Handlungen, ausgereifte Charaktere und Krimihandlungen mögen, die sich nicht nur mit der bluttriefenden Beschreibung abgetrennter Körperteile beschäftigen, sondern mit den Menschen und wie und warum sie Verbrechen begehen.

 

Ebenso empfehlenswert ist das bei Hörbuch Hamburg erschiene Hörbuch. Torben Kessler macht einen erstklassigen Job als Sprecher, verleiht den einzelnen Charakteren eine Stimme und schafft es, den Sog des Buches auch in der Hörbuchfassung zu erzeugen.

 

Und in diesem Fall ist auch die Serienadaption eine absolute Empfehlung wert. In der Verfilmung des Buches als Zehnteiler fürs TV spielt Patrick Dempsey in dem Thriller den titelgebenden Harry Quebert, einen erfolgreichen Schriftsteller, der des Mordes beschuldigt wird, nachdem die Leiche eines jungen Mädchens vergraben auf seinem Grundstück aufgefunden wird. Mit „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ bekommt ihr eine wirklich spannende Serie geboten. Insgesamt umfasst die Mini-Serie zehn Episoden, eine zweite Staffel ist nicht zu erwarten, denn ihr bekommt eine abgeschlossene Geschichte erzählt. Genau das Richtige, um sich ein spannendes Wochenende in der sonnigen Landschaft von Maine zu machen.


Die Schönen und die Coolen - Der Bildband Castingallee des Fotografen Matthias David

Die Schönen und die Coolen. Es gab eine Zeit, da sammelte sich wer hip und ein Künstler sein wollte, am Prenzlauer Berg in Berlin. Viele davon hat der Fotograf Matthias David in seinem eben erschienen Bildband „Castingallee“ abgelichtet. 

Das im Herzstück Verlag erschienene Hochglanzbuch vereint Bilder aus den Jahren 2004 bis 2009 zeigen Robert Stadlober, Daniel Brühl und Laura Osswald, Mieze von Mia, eine sehr junge Nora Tschirner und viele mehr. 

Die Berliner Prominenz aus Film, Mode, Musik und Kunst. Sie tanzen, spielen Tennis und sehen sehr gut aus. Eine Retrospektive auf eine Stadt und ihren Hort an jungen Kreativen, ein Blick auf eine ehemals glänzende Oberfläche unserer Hauptstadt, die es in dieser Form längst nicht mehr gibt, weil er vollkommen verspießbürgert und ein Ort der neuen Bohème wurde.

Das dokumentiert der Band auf seinen besten Seiten ebenso, wie das Leben zur damaligen Zeit an diesem Ort. Niels Ruf im Vorwort: „Seine Bilder zeigen Partyszenen, Spontanportraits, Zeitschriftencover, Mode, Elend, Wahlplakate. Einen CDU-Politiker fotografierte er für dessen Kampagne einmal ohne geschlafen, geschweige denn überhaupt ansatzweise ausgenüchtert zu haben.“ 

Dazu passen die Bilder: Schöne Menschen, die schöne Dinge tun, ziemlich oft: feiern oder sich ausziehen. 

So überzogen und überdreht die Zeiten damals, so bewusst überbelichtet kommen die meisten Aufnahmen daher. Das wirkt krass und sieht doch gleichzeitig nach einer Menge Spaß aus. Dazwischen immer wieder Textfragmente – etwa von Schauspieler Robert Stadlober oder dem Popjournalisten Linus Volkmann. Diese Miniaturen werfen Schlaglichter auf die Szene- und Lebenskultur der Zeit: Getanzt wurde zu Ellen Alien, gewohnt in schlimmen, schönen WGs.

Erschienen im Herzstück Verlag Berlin: https://www.herzstueckverlag.de/.../castingallee...

Autistic Disco - Bildband von Multitalent Lars Eidinger

„Mit der Emotionengeschichte ist es so eine Sache - an Gefühle kommt man in der Geschichte schwer heran … Heute wandern sie immer stärker in andere Sphären aus, verbünden sich mit Kurznachrichten, Tonspuren und vor allem Bildern. Wer in Zukunft Gefühlsgeschichte schreiben will, wird sich auf Bilder beziehen müssen. Das Archiv einer zukünftigen Vergangenheit wird ein visuelles sein.“ 

Aus dem vom Schriftsteller Simon Strauss verfassen und m.E. sehr gelungenen Vorwort „Angeschnittene Traurigkeit“ zum Bildband „Autistic Disco“ des Schauspielers Lars Eidinger. 

„Seine Bilder halten für die Nachwelt ein Damals fest, das sich in sich gekehrt hat, in der Einsamkeit kein pathologisches Merkmal Einzelner, sondern eine Eigenschaft aller ist.“

Erschienen in ansprechend schlichter und feiner Aufmachung im Hatje Cantz Verlag: https://www.hatjecantz.de/lars-eidinger-7822-0.html

Über die Abgründe des Glücks:
Die Freiheit am Morgen von Martin Simon

„Die Freiheit am Morgen“, heißt das bereits 2013 erschienene Debüt des Berliner Autors Martin Simon. Simon ist Jurist, wie auch Paul Stern, der Protagonist seines Romans. Letzteren hat seine steile Karriere an seine physischen Grenzen gebracht. Er kündigt seinen Job, krempelt sein Leben um.

Simon hat für seine Geschichte eine nüchterne und beschreibende Sprache gewählt. So zeichnet er mit feinen Federstrichen eine Figurenwelt voller Alphatiere, wie sie in der Businesswelt, bei Juristen, in der Wissenschaft und der Politik leider nur allzu gegenwärtig ist. Obwohl der Roman flott geschrieben ist, versetzt es einen in Szenen der Ruhe, immer wieder unterbrochen von teilweise sehr poetischen Beschreibungen von Landschaften und inneren Stimmungen, die dann oftmals in Sinnesfragen münden. Ernst und ironisch. 

Um was geht es: Ein junger Mann steht am Rand eines Hochhausdaches, blickt in die Tiefe, auf Verkehrsströme und Passanten, und versucht sich vorzustellen, wie sich der Aufprall anfühlt, wenn er einen Schritt weitergehen und sich die 23. Stockwerke hinunterstürzen würde. Plötzlich wendet er sich vom Abgrund ab. Er muss er noch einen wichtigen Schriftsatz für seinen Chef fertig machen. Dafür lässt er das Wochenende mit der Freundin platzen. Karriere kommt vor dem ganzen anderen Mist. Nur noch schnell ein paar Akten kopieren. Doch um 22:53 Uhr setzt ein Papierstau nicht nur den Kopierer außer Gefecht. Auch in Pauls Kopf brennt eine Sicherung durch: „Eine kleine weiße Lichtkugel zerspringt in seinem Kopf. Dann wird es dunkel“. 

Schon am nächsten Tag kündigt er seinen Job. Statt sich weiter in der Karrieremühle zu zerreiben, will er sich treiben lassen, neu erfinden und dem Zufall eine Chance geben. Dieser Zufall führt ihn in die Arme von Mara, die er in der Galerie eines Freundes kennenlernt. Die Affäre scheint Paul gesunden zu lassen. Wenn Mara neben ihm liegt, kann er so tief schlafen wie seit Jahren nicht mehr. Doch das kurzfristige Liebesglück bringt nicht die erhoffte Erlösung. 

Eine sprachlich brillante, moderne Version vom Hans im Glück, der am Ende alles verspielt. Süffig zu lesen, empfehlenswert.

Matthias Brandt Blackbird

Das perfekte Wetter um ein gutes Buch zu verschlingen, das sich mit der Frage beschäftigt, wie man das Unerträgliche erträgt, das perfiderweise zum Leben dazu gehört?  

Matthias Brandt ist nicht nur ein exzellenter Schauspieler, sondern auch ein sensibler Autor, das hat er bereits mit seinem 2016 erschienen Erzählband "Raumpatrouille" bewiesen. Mit „Blackbird“ hat er 2019 einen zarten, brutal traurigen und immer wieder auch knallkomischen Roman über diese verfluchte Gleichzeitigkeit von Existentiellem und Nebensächlichen geschrieben, die das Grundmuster unseres Daseins ausmacht und dennoch kaum zu fassen ist. 

Übringens ist das Buch auch in der von Matthias Brandt selbst gelesenen und perfekt vorgetragenen Hörbuchfassung ein absoluter Genuss! 

Gelungen ist ihm mit "Blackbird" die Rekonstruktion einer Zeit, in der sich die Jugend ihren Platz in der Welt sucht und Popsongs zumindest zum Teil die notwendige Erklärung liefern. Das ganze ist ebenso schön, treffend und rührend schon lange nicht mehr beschrieben worden. Durchzogen von sanfter Melancholie und feinem Humor, hat der Sohn von Ex-Bundeskalnzler Willy Brandt ein Buch geschrieben, das tief in die Gedankenwelt und Wahrnehmung eines 15-jährigen eindringt, wie sie vielleicht viele kennen, die in dieser längst vergangenen Zeit groß geworden sind und sie aus seiner Perspektive schildert.

Er erzählt die Geschichte des 15-jährigen Morten Schumacher, genannt Motte, dessen Leben sich nach einem Anruf schlagartig ändert. Zwischen der Möglichkeit des Todes und der Möglichkeit der Liebe spitzen sich die Ereignisse immer weiter zu, geraten außer Kontrolle und stellen Motte vor unbekannte, schmerzhafte Herausforderungen.